Die 90-jährige Berlinerin Ruth Winkelmann möchte ihre Lebensgeschichte mit anderen teilen:
Die 90-jährige Berlinerin Ruth Winkelmann möchte ihre Lebensgeschichte mit anderen teilen: "Damit niemand vergisst." Foto: Privat

Wülfrath. In der Mensa des Gymnasiums Wülfrath findet am Freitag, 18. Januar, ab 10 Uhr das Zeitzeugengespräch statt; zu Gast ist dann Ruth Winkelmann aus Berlin. 

Wenn Ruth Winkelmann spricht, dann blitzt es: Aus ihren lebhaften Augen. Und von ihrer langen Kette, an der ein goldener Davidstern hängt. Zu dem hat sie eine enge Beziehung, sagt sie. Ruth Winkelmann kommt, um von ihrer Kindheit zu erzählen. In Hohen Neuendorf hat sie gelebt, und in Berlin. Dass sie ihre Kindheit überlebt hat, in der Zeit des Nationalsozialismus, ist nicht selbstverständlich. Ihr Vater war Jude, ihre Mutter christlich. Viele Familienmitglieder wurden deportiert, nur ein Cousin kehrte aus dem Konzentrationslager zurück. Heute erinnern in Hohen Neuendorf drei Stolpersteine an die Großeltern und den Vater von Ruth Winkelmann.

Dass die 90-jährige Berlinerin ihre Geschichte mit einem Publikum teilen möchte, hat einen einfachen Grund. „Damit niemand vergisst“, sagt sie sehr bestimmt. „Ruth Winkelmann: Plötzlich hieß ich Sara“ heißt das Buch, das in Zusammenarbeit mit der Autorin Claudia Johanna Bauer – Leiterin der Erinnerungswerkstatt im Heimatmuseum Berlin-Reinickendorf – entstanden ist und 2011 veröffentlicht wurde. Seitdem hält Ruth Winkelmann unablässig Lesungen, unterhält sich mit Menschen über ihr Schicksal.
Dabei hat es selbst Jahrzehnte gebraucht, bis sie sich ihrer Vergangenheit stellen konnte. Zu schmerzlich waren die Verluste. „Ich habe jedes Mal angefangen zu zittern, wenn ich darüber sprechen sollte. Vor Lesungen konnte ich nicht schlafen.“ Das ist heute anders. Ein Besuch in Auschwitz, wo ihr geliebter Vater umgekommen ist, half ihr, das Erfahrene zu bewältigen. „Seit ich die Hölle in Auschwitz gesehen habe, muss ich über meine Geschichte reden.“

Konzentriert trägt sie diese vor. Wie sie von Hohen Neuendorf täglich nach Berlin gefahren ist, zur Jüdischen Mädchen-Volksschule. Wie sie sich den Heimweg mit einem Sechser – also fünf Pfennig – versüßte und davon ein Nappo, Nougat mit Schokoladenüberzug, kaufte. Zur Anschauung reicht Ruth Winkelmann eine Schachtel mit dieser Süßigkeit zum Probieren im Saal umher. Es hört sich nach einer harmonischen Kindheit an. Doch die endete plötzlich: am 9. November 1938 mit der Pogromnacht. Am nächsten Tag sieht sie in Berlin die zerstörten jüdischen Geschäfte; sieht, wie drei Nationalsozialisten einen orthodoxen Juden verprügeln. Ihre Schule wird von rechten Randalierern blockiert, Mädchen und Lehrer müssen flüchten. „Mit diesem Tag war ich plötzlich erwachsen. Mir kam es so vor, als müsste ich von nun an für jeden meiner Schritte die Verantwortung übernehmen“, erinnert sich Ruth Winkelmann.

Der gelbe Judenstern, die Zwangsscheidung der Eltern, die Deportation von Familienmitgliedern, Hunger, Kälte, die Gefahr der Entdeckung – dass sie das „Tausendjährige Reich“, wie Ruth Winkelmann es zitiert, überlebte, hat mit viel Glück zu tun. „Wir lebten halb im Untergrund“, erzählt Ruth Winkelmann. Ein Krankenkassenmitarbeiter – zugleich NSDAP-Mitglied -, der ihre Mutter verehrte, bot der Familie seine Laube als Versteck an. Als sie mit 14 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet wurde und in einer Berliner Uniformfabrik arbeiten musste, drückte der Leiter mit Parteiabzeichen ein Auge zu, wenn das Mädchen erschöpft während der Arbeitszeit einschlief. „Es gab solche und solche – und wieder andere“, sagt Ruth Winkelmann und lächelt dazu. Das habe ihr in der Zeit nach Kriegsende sehr weitergeholfen. Deshalb kam ihr auch nie der Gedanke, Berlin zu verlassen. „Man darf nicht die gesamte Gesellschaft für seine Regierung verantwortlich machen“, meint sie.

Ermuntert von Ruth Winkelmann dürfen die Zuhörer Fragen stellen, die sie munter beantwortet. Wann sie erfahren habe, dass so viele ihrer Verwandten in Konzentrationslagern umgekommen sind, möchte einer wissen. Jahre habe es gedauert, bis sie das akzeptieren konnte, antwortet Ruth Winkelmann. „Wie oft ich auf den Straßen fremden Menschen hinterhergelaufen bin, weil ich dachte, sie wären meine Verwandten. Allein zehnmal habe ich gedacht, meinen Vati zu sehen“, erzählt sie.

Und wie verhielt sich die Nachkriegsgesellschaft gegenüber Juden? Ihr späterer Ehemann lief nach einem Tanz begeistert nach Hause und verkündete seiner Mutter: „Ich habe gerade die Frau meines Lebens getroffen und ich werde sie heiraten. Und sie ist Jüdin.“ Deren Antwort: „Das kann nicht sein. Die wurden doch alle vergast.“ „So war das damals“, sagt sie. Man merkt, wie ernst Ruth Winkelmann ihre Aufgabe nimmt, die Vergangenheit nicht vergessen zu lassen.