Ratingen. Man kennt dieses Gefühl: Der Monat ist kaum halb vorbei, und schon rechnet man im Kopf, ob es am Ende wieder reicht. Nicht weil man verschwenderisch lebt, sondern weil das, was früher selbstverständlich war, heute spürbar drückt. Strom, Miete, Einkäufe – alles zieht an. Und während die Nachrichten von einer „moderaten Inflation“ sprechen, fühlt sich das Leben an wie eine ständige Preistreiberei. Sie wissen genau, was Ihr Portemonnaie sagt, wenn die Statistik von Durchschnittspreisen redet: Durchschnitt ist nicht Ihr Alltag.
Die offiziellen Zahlen zeigen ein ruhiges Bild, doch die Realität vieler Menschen sieht anders aus. Die Inflationsrate ist nur der gemittelte Schatten eines komplexen Lebens. Sie verrechnet Billigflüge mit Butter, Fernseher mit Fleisch, Elektronik mit Energie. Aber wer geht schon jeden Monat einen Fernseher kaufen? Das, was man tatsächlich und regelmäßig bezahlt, ist das, was wirklich weh tut. Und genau diese Preise – Brot, Käse, Miete, Strom, Restaurantbesuche – sind überdurchschnittlich gestiegen.
Während die Wirtschaft von Stabilität spricht, kämpfen Haushalte längst um Bewegungsfreiheit. Immer mehr Geld ist fest gebunden, noch bevor der Monat richtig beginnt. Die Politik nennt das „Fixkostenanteil“, für die meisten ist es einfach: Das Geld ist schon verplant.
Früher konnte man sich kleine Auszeiten leisten – ein Abendessen, ein Konzert, das Vereinsfest. Heute wird jedes Mal überlegt: „Können wir uns das noch gönnen?“ Die reale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wird zur Rechenaufgabe. Und wenn man absagt, bleibt nicht nur der Stuhl leer, sondern auch ein Stück Gemeinschaft. Denn dort, wo Begegnung stattfindet – in Restaurants, Vereinen, Veranstaltungen –, wird das Leben sichtbar, das uns verbindet.
Doch während die reale Welt sich verteuert, frisst die digitale Welt leise unser Restbudget. Monat für Monat ziehen Streaming-Abos, Spiele-Dienste, Cloud-Speicher, Musikplattformen oder Premium-Apps kleine Beträge ab. Zwanzig Euro hier, neun Euro da – kaum spürbar, einzeln betrachtet harmlos. Zusammen aber sind es oft über hundert Euro im Monat. Geld, das fehlt, wenn der Freund zum Essen einlädt oder wenn das Stadtfest Eintritt kostet.
Digitalisierung ist kein kostenloser Fortschritt. Sie ist zur unsichtbaren Kostenmaschine geworden – komfortabel, verführerisch, gesellschaftlich akzeptiert. Wir zahlen nicht für Dinge, sondern für Zugang: Zugang zu Medien, zu Kommunikation, zu Unterhaltung. Und dieser Zugang kostet Monat für Monat mehr. Das Schlimme ist: Man merkt es erst, wenn man reale Teilhabe vergleicht. Die digitale Welt wirkt günstiger – bis man sieht, dass sie das echte Leben still ersetzt.
So verschiebt sich das Gleichgewicht: Wir sind ständig „verbunden“, aber immer seltener wirklich dabei. Man kann heute ganze Abende „gemeinsam“ verbringen, ohne das Haus zu verlassen – und ohne zu merken, dass der Preis dafür nicht nur in Euro gezahlt wird, sondern in sozialer Leere. Ein Abo ersetzt keine Begegnung, und kein Stream fängt das auf, was an Wirtshaustischen, Vereinsabenden oder Konzerten passiert: Spontane Nähe, geteilte Emotion, echte Gemeinschaft.
Die Gesellschaft spürt das längst, auch wenn sie es selten so nennt. Veranstaltungen haben weniger Besucher, Restaurants kämpfen mit sinkenden Gästezahlen, Vereine finden keine Aktiven mehr. Es liegt nicht nur an Faulheit oder Bequemlichkeit – es ist auch schlicht teurer geworden, „dabei zu sein“. Die Fixkosten der digitalen und physischen Welt konkurrieren direkt um dasselbe Budget.
Wer Politik macht, müsste erkennen, dass Teilhabe nicht nur von Preisen abhängt, sondern von Strukturen, die Menschen in digitale Abhängigkeiten drängen. Die Debatte über soziale Gerechtigkeit bleibt unvollständig, solange digitale Grundkosten – Internet, Streaming, Online-Kommunikation – nicht als Teil der Lebenshaltung anerkannt werden. Es genügt nicht, reale Kultur zu fördern, wenn gleichzeitig die digitale Freizeit immer größere Geldanteile bindet.
Das eigentliche Problem ist tiefer: Wir verlieren den Sinn dafür, was Teilhabe bedeutet. Gesellschaft entsteht nicht aus Bildschirmzeit, sondern aus gemeinsam verbrachter Zeit. Sie wächst dort, wo Menschen sich begegnen, nicht wo sie sich nur lesen. Und wenn das reale Leben zur Luxusoption wird, bricht der Kitt weg, der uns zusammenhält.
Sie kennen sicher diese kleine Entscheidung: „Heute bleiben wir einfach zu Hause.“ Sie ist verständlich, nachvollziehbar – aber sie hat gesellschaftliche Folgen, wenn sie millionenfach getroffen wird. Jedes abgesagte Treffen, jedes ausgelassene Fest, jede leere Kneipe zieht eine Spur von Vereinzelung hinter sich her. Und irgendwann wundern wir uns, warum die Welt kälter wirkt, obwohl wir dauernd „online“ sind.
Die offizielle Inflation misst, was sich in Zahlen ausdrücken lässt. Die echte Inflation misst, wie viel Leben wir uns noch leisten können. Sie zeigt sich nicht nur an Kassenzetteln, sondern in den Momenten, die wir verpassen, weil wir sparen müssen – an Begegnungen, die nicht stattfinden, an Geschichten, die nicht erzählt werden, an Gemeinschaft, die ausbleibt.
Wenn wir diese Entwicklung weiterlaufen lassen, verlieren wir mehr als Kaufkraft. Wir verlieren Nähe, Spontaneität, das Gefühl, Teil von etwas zu sein. Und das ist gefährlicher als jeder Preisanstieg. Denn wenn Menschen sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, verarmt nicht nur ihr Alltag, sondern die ganze Gesellschaft.
Es wäre möglich, gegenzusteuern – aber nur, wenn wir das Problem beim Namen nennen. Wir müssen verstehen, dass Teilhabe kein Freizeitluxus ist, sondern demokratische Infrastruktur. Wer Begegnung fördert, stärkt Zusammenhalt. Wer reale Orte erschwinglich hält, schützt die Gesellschaft vor dem Rückzug in digitale Ersatzwelten. Und wer begreift, dass „teuer“ nicht nur eine Preisfrage ist, sondern eine Frage von Prioritäten, der kann den Trend noch umkehren.
Vielleicht fängt es ganz einfach an: bei der Entscheidung, wieder öfter hinauszugehen, einander zu treffen, ein Stück echte Gegenwart zu teilen. Denn eine Gesellschaft, die sich leisten will, Mensch zu bleiben, darf die gemeinsame Zeit nicht zum unbezahlbaren Gut werden lassen.