
Bochum (dpa) – Eine gehörlose Zwölfjährige wurde vermisst – die Polizei sollte bei der Suche helfen, doch am Ende lag das Mädchen mit einer Schussverletzung aus einer Polizeiwaffe auf der Intensivstation. Die nordrhein-westfälische Landesregierung hat den dramatischen Einsatz nun in einer Sondersitzung des Innen- und des Familienausschusses nachgezeichnet.
16. November 2025
- Gegen Mittag: Das Mädchen verlässt die offene Wohngruppe für gehörlose Kinder und Jugendliche in Münster, in der es wohnt. Daraufhin wird sie als vermisst gemeldet.
- Weil das Mädchen auf lebenswichtige Medikamente angewiesen ist, gebe es einen Notfallplan für solche Situationen, sagt Familienministerin Josefine Paul (Grüne). Mehrere zuständige Behörden seien informiert worden – darunter die Polizei.
- Am Nachmittag: Es gibt mehrere Videotelefonate zwischen den Betreuern und der ebenfalls gehörlosen Mutter. Mit Gebärdensprache können sie über die Handy-Displays kommunizieren. Die Mutter habe bestätigt, dass die Zwölfjährige bei ihr in Bochum ist. Es sei vereinbart worden, dass das Mädchen zunächst bei der Mutter bleiben darf und bis zum Abend gegen 21.00 Uhr zurück in Münster sein soll, sagt Innenminister Herbert Reul (CDU).
- 17.32 Uhr: Zum ersten Mal macht sich ein Streifenwagen auf den Weg zur Wohnung der Mutter in Bochum-Hamme. Auf ihr Klingeln und Klopfen reagierte laut Reul niemand.
- 20.05 Uhr: Die Mutter meldet den Betreuern, dass ihre Tochter nicht mehr bei ihr sei – damit galt sie wieder als vermisst, sagt Paul.
- 22.39 Uhr: Polizisten fahren zum zweiten Mal zur Wohnung der Mutter. Erneut sei ihnen nicht geöffnet worden.
17. November 2025
- 0.33 Uhr: Die Polizei fährt ein drittes Mal zur Wohnung – diesmal mit der Maßgabe, sich Zutritt zu der Wohnung zu verschaffen, damit die Zwölfjährige an ihre Medikamente kommt. Diesmal werden vier Beamte eingesetzt.
- Weil ihnen erneut nicht geöffnet wird, versuchen die Beamten laut Oberstaatsanwalt Benjamin Kluck mit Taschenlampen in die Fenster der Wohnung zu leuchten und die gehörlosen Bewohner so auf sich aufmerksam zu machen. Schließlich lässt ein Nachbar die Beamten ins Treppenhaus. Um auch in die Wohnung zu gelangen, bestellen die Polizisten einen Schlüsseldienst.
- Gegen 1.30 Uhr: Noch vor Ankunft des Schlüsseldienstes öffnet die Mutter unvermittelt die Tür. «Verbal und mit Gesten» hätten die Beamten versucht, sie zum Verlassen der Wohnung zu bewegen, sagt Kluck. Ein Gebärdendolmetscher ist bei dem Einsatz nicht dabei.
- Weil die Mutter die Wohnung nicht habe verlassen wollen, habe ein Beamter sie ins Treppenhaus gezogen, berichtet Kluck. Wegen anhaltender Gegenwehr hätten die Beamten sie schließlich zu Boden gebracht und fixiert.
- Die Zwölfjährige und ihr 21-jähriger Bruder, die zuvor im Flur standen, sollen daraufhin in die Küche gegangen und die Tür verschlossen haben. Laut Kluck hörten zwei Beamte von außen Geräusche, «die für sie auf ein hastiges Öffnen von Schubladen und Wühlen nach Messern schließen ließen», sagt Kluck. Lautstark hätten sie ihre Kollegen «vor einer möglichen Bedrohungslage mit einem Messer» gewarnt und hätten die Wohnung verlassen.
- Im Treppenhaus vor der Wohnungstür gingen drei Beamte in Stellung: Zwei mit gezogener Dienstwaffe auf der Treppe unterhalb der Wohnung, einer mit Taser auf der Treppe nach oben. Alle drei zielten dem Oberstaatsanwalt zufolge auf die geöffnete Wohnungstür.
- Kurz nach den Beamten sei die Zwölfjährige mit zwei Küchenmessern in der Hand erschienen und habe sich weiter auf die Beamten zubewegt, sagt Kluck.
- Doch in diesem Punkt widerspricht der Anwalt der Zwölfjährigen, Simón Barrera González. Nach Gesprächen mit der Mutter und dem Bruder geht er davon aus, dass es keinen Messerangriff mit unmittelbarer Lebensgefahr für die Beamten gegeben hat.
- Unstrittig ist wieder, dass einer der Beamten in dieser Situation einen Schuss aus seiner Dienstwaffe abgegeben, das Mädchen in der Brust getroffen und lebensgefährlich verletzt hat. Fast zeitgleich setzte ein anderer Beamter seinen Taser ein.
- Das Mädchen kam daraufhin mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Krankenhaus und musste mehrmals operiert werden.
