Haus Cromford, Heute Symbol der Industrialisierung Ratingens, Bild: Alexander Heinz
Haus Cromford, Heute Symbol der Industrialisierung Ratingens, Bild: Alexander Heinz

Vom Mühlrad zum Stahlzug – die zwei Flüsse der Stadt


Was in Ratingen bei der Betrachtung als stiller Bach beginnt, ist in Wahrheit eine Chronik der Arbeit. Der Angerbach, der durch das Stadtgebiet zieht, hat über Jahrhunderte Energie, Bewegung und Geschichte erzeugt – zuerst als Antrieb, später als Achse industrieller Entwicklung, heute als Rückgrat eines landschaftlichen Gedächtnisses. Und als wäre dieser natürliche Lauf allein nicht genug, bekam er im 20. Jahrhundert einen menschengemachten Zwilling: die Kalkbahn, eine Schienenlinie, die vom Wülfrather Steinbruch bis zu den Hochöfen im Ruhrgebiet führt. Zusammen bilden sie, symbolisch wie funktional, die Ratinger Wasserkraftstraße – ein Band aus Wasser, Stein, Eisen und Erinnerung.

Vom Wehrhof zur Fabrik

Der Ursprung liegt im Mittelalter. Entlang der Anger entstanden erste Mühlenhöfe, gesichert durch Gräben und Wehre, gespeist durch die stetige Kraft des Wassers. Das prominenteste Zeugnis dieser Zeit ist das Haus zum Haus, ein wehrhafter Gutshof mit Wassergraben, Torhaus und Mühle. Hier verband sich Schutz mit Produktion – ein Mikrokosmos mittelalterlicher Selbstversorgung, der zugleich die Grundlage für die spätere Industrialisierung legte.

Mit der Papierfabrik Bagel und der Baumwollspinnerei Cromford am Unterlauf des Bachs begann im 18. und 19. Jahrhundert der Übergang zur Fabrikgesellschaft. Aus der natürlichen Wasserkraft wurde mechanische Energie; aus dem Mühlrad die Transmission. Ratingen war damit einer der frühen Orte, an denen der Übergang von Handwerk zu Industrie sichtbar wurde – und das alles entlang eines einzigen, schmalen Wasserlaufes.

Vom Garten zur Stadtidentität

Als die Industrie sich ausbreitete, zog auch das Bürgertum an den Bach. Direkt neben Cromford ließ der Industrielle Carl Poensgen 1906 den Poensgenpark anlegen – einen Landschaftsgarten im englischen Stil, der heute als Gartendenkmal gilt. Wo zuvor gearbeitet wurde, begann man zu flanieren. Die gebaute Form blieb ähnlich – Alleen, Wasserläufe, Bögen –, doch ihre Funktion wandelte sich von Arbeit zu Erholung.

Damit wurde die Anger zum identitätsstiftenden Element der Stadt: Sie verband bürgerliche Repräsentation, frühe Industriegeschichte und landschaftliche Ruhe zu einem Ensemble, das bis heute zu den kulturellen Markenzeichen Ratingens zählt. Poensgenpark, Haus zum Haus und Cromford bilden den historischen Dreiklang – drei Ausdrucksformen derselben Ressource: Wasser als Energiequelle, Lebensgrundlage und Symbol von Kultur.

Vom Abbruch zur Bühne

Wo das Wasser nicht mehr treiben musste, trat das Publikum an seine Stelle. Der ehemalige Kalksteinbruch am Nordrand der Stadt füllte sich nach Ende des Abbaus mit Grundwasser – der Blaue See entstand. Seine charakteristische Färbung machte ihn schnell zum Lieblingsort für Badegäste und Spaziergänger.

In den 1930er-Jahren kam das Theater hinzu: Die Freilichtbühne verwandelte die industrielle Wunde in eine kulturelle Arena. Hier begann das, was man als zweite Erfindung des Angertals bezeichnen könnte – der Übergang von der Produktivlandschaft zur Erlebnislandschaft. Das Wasser blieb, aber seine Bedeutung verschob sich: vom Antrieb zum Spiegel, von der Arbeit zur Bühne.

Vom Mühlenpfad zum Landschaftsband

Folgt man der Anger flussaufwärts, öffnet sich hinter der Autobahnbrücke ein neues Kapitel. Das Haus Müschenau, einst beliebter Rastpunkt, steht heute stiller, doch seine Lage zeigt, warum dieser Abschnitt des Tals als der idyllischste gilt. Zwischen Waldrändern und Weideflächen mäandert der Bach, begleitet von alten Wegen, die längst als Rad- und Wandertrassen dienen.

Das Haus Anger und weitere Gutshöfe markieren die Übergangszone, in der die produktive Nutzung der Landschaft in den Hintergrund tritt und die Erholung dominiert. Erst weiter oberhalb, im Bereich der Wülfrather Kalk- und Zementwerke, kehrt die Industrie in neuem Maßstab zurück. Hier arbeitet die Erde selbst: gewaltige Steinbrüche, Förderbänder, Silos und Brennöfen. Der Bach, so klein er ist, bleibt der rote Faden – ein Zeuge zwischen Idylle und Arbeit.

Vom Steinbruch zur Schiene

Die Kalkbahn ergänzt diese Geschichte um ihre jüngste und technischste Schicht. Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, verband sie die Wülfrather Kalkwerke mit den Stahlstandorten im westlichen Ruhrgebiet – insbesondere den Hochöfen in Duisburg. Über Jahrzehnte rollten hier unzählige Züge mit Kalk, Schlacke und Rohstoff – unscheinbar, aber unverzichtbar.

Ihre Linienführung folgt dem Talverlauf, oft nur wenige Meter oberhalb des Bachbetts. Damit wirkt sie wie eine zweite, künstliche Anger – geschaffen, um anstelle des Wassers nun den industriellen Stoffwechsel der Region zu organisieren. Die Kalkbahn steht damit für die dritte große Phase der Ratinger Landschaftsgeschichte:

  1. Hydraulische Energie (Mühlen und Fabriken),
  2. Landschaftliche Erholung (Parks und Seen),
  3. Logistische Vernetzung (Schiene und Industrieversorgung).

Heute ist sie teils noch in Betrieb, teils Relikt – eine Infrastruktur, die zugleich verbindet und durchschneidet. Sie trägt den Kalk vom Tal zu den Hochöfen, aber auch die Geschichte des Tals weiter in die industrielle Moderne.

Vom Arbeitsfluss zum Erinnerungsraum

In der Summe bildet die Anger mit ihren Begleitinfrastrukturen – den Parks, den Mühlen, der Autobahnbrücke, der Kalkbahn – ein vollständiges Panorama der mitteleuropäischen Industrialisierung. Kein anderer Ort im Rheinland zeigt auf so engem Raum, wie eng Natur, Wirtschaft und Kultur verwoben sind.

Vom mittelalterlichen Wehrhof bis zum modernen Schienentransport zieht sich eine Linie, die mehr erzählt als jede Museumsinschrift: Sie zeigt, wie Landschaft Arbeit hervorbringt, Arbeit Reichtum, Reichtum Gestaltung – und Gestaltung schließlich wieder Ruhe. Das ist das große Kreislaufmotiv der Ratinger Wasserkraftstraße: ein Weg, auf dem man lesen kann, wie Wasser, Stein und Mensch einander formen.

Vom Gestern ins Morgen

Heute steht das Angerbachtal unter neuem Vorzeichen: Klimaanpassung, Renaturierung und sanfter Tourismus ersetzen Fabrikrauch und Maschinenlärm. Doch der industrielle Abdruck bleibt – sichtbar in Backstein, Beton und Bahntrasse. Gerade diese Gleichzeitigkeit von Geschichte und Gegenwart macht den Raum einzigartig.

Wer von Cromford bis Flandersbach wandert oder radelt, passiert Jahrhunderte in wenigen Kilometern. Man sieht, wie Wasser einst Energie war, wie Industrie zur Kultur wurde und wie aus Stein wieder Landschaft wächst. Die Kalkbahn bleibt dabei das stille Symbol des Fortschritts: Sie führt weiter, während der Bach bleibt. Zwei Linien – eine natürlich, eine menschengemacht –, beide Zeugen einer Stadt, die sich immer wieder neu am Wasser erfindet.

So endet die Reise entlang der Ratinger Wasserkraftstraße nicht an der Stadtgrenze, sondern in der Erkenntnis, dass Geschichte hier nicht vergeht, sondern weiterfließt – im Bachbett der Anger und auf den Schienen der Kalkbahn gleichermaßen.